Als ich im September 2023 beim Württembergischen Wettbewerb für gottesdienstliches
Orgelspiel als Sonderpreis eine Orgelreise nach Paris gewonnen hatte, wusste ich noch nicht,
was mich erwarten würde. Es sollte auch noch eine Weile dauern, bis ich den Preis einlösen
konnte, da im Jahr 2024 wegen der in Paris stattfindenden Olympischen Spiele keine Orgelreise
durchgeführt wurde. In der Woche nach Ostern 2025 war es dann endlich so weit:
Ca. 60 Teilnehmer im Alter von 17 bis 70+ Jahren trafen sich am Nachmittag des 23. April am
Institut National Des Jeunes Aveugles (INJA) in der Nähe des Invalidendoms. 1784 gegründet,
ist das nationale Institut für junge Blinde in Paris die weltweit erste Blindenschule und wurde ein
Vorbild für zahlreiche weitere. Unter anderem besuchte Louis Braille, der Erfinder der
Blindenschrift, die Schule ab 1819 und lehrte später auch dort. Von besonderem Interesse für
uns: Im Jahr 1826 wurde dort eine Orgelklasse eingerichtet, die Adolphe Marty von 1888 bis
1930 unterrichtete. Absolventen waren u.a. Louis Vierne und Jean Langlais. Die heutige Orgel
im Saal des Instituts stammt von Victor Gonzalez aus dem Jahr 1961. Bei der
Eröffnungsveranstaltung der Reise mit Begrüßung und Vorstellung aller Teilnehmer konnten wir
die Orgel bei einem Konzert mit dem blinden Organisten Dominique Levacque erleben. Er
spielte Werke von Adolf Hesse, Eugène Gigout, Antoine Reboulot und Charles-Marie Widor.
Am Abend besuchten wir die Kirche Saint-Étienne-du-Mont in der Nähe des Pantheons und der
berühmten Universität Sorbonne. Maurice Duruflé wirkte an der Kirche von 1930 bis 1986 als
Organist. Die 1630 von Pierre le Pescheur erbaute Orgel wurde von François-Henri Clicquot
(1777) und später von Aristide Cavaillé-Coll (1863, 1873) erweitert. 1956 erhielt sie ein
Fernwerk im südlichen Treppenturm nach Plänen von Maurice Duruflé. In der gegenüber der
Kirche gelegenen Wohnung des Ehepaars Duruflé ist heute noch die Hausorgel (bis 32‘) zu
sehen. David Cassan, der derzeitige Titularorganist in Saint-Étienne-du-Mont, spielte für uns ein
Orgelkonzert, das mit einer eindrucksvollen Improvisation endete.
Am Morgen des 24. April stand die Kirche La Trinité in der Nähe der Opéra Garnier auf dem
Programm. Haupt- und Chororgel der Kirche gehen auf Aristide Cavaillé-Coll zurück. Kein
geringerer als Olivier Messiaen hatte von 1931 bis 1992 in La Trinité das Amt des
Titularorganisten inne. Wir durften ein Orgelkonzert mit der derzeitigen Organistin Carolyn
Shuster erleben. An diesem Morgen fanden auch die ersten Orgelkurse für die aktiven
Teilnehmer der Reise bei David Cassan in Saint-Étienne-du-Mont und bei Carolyn Shuster in La
Trinité statt.
Am Mittag folgte ein Höhepunkte unserer Reise: Wir besuchten die im 6. Arrondissement
gelegene Kirche Saint-Sulpice, nach Notre-Dame de Paris die zweitgrößte Kirche der Stadt. Die
Hauptorgel der Kirche ist ein weitgehend im Originalzustand erhaltenes Instrument von
François-Henri Clicquot und Aristide Cavaillé-Coll. Sie war zur Zeit ihrer Entstehung eine der
größten Orgeln Europas. Heute hat sie 102 Register (ca. 7000 Pfeifen) auf fünf Manualen und
Pedal. Als Titularorganisten wirkten in Saint-Sulpice u.a. Louis James Alfred Lefébure-Wély
(1863-1869), Charles-Marie Widor (1870-1933), Marcel Dupré (1934-1971) und zuletzt der aus
dem Elsass stammende Daniel Roth (1985-2023). Widor ist in der Krypta der Kirche bestattet.
Die Stelle des Titularorganisten teilen sich heute Sophie-Véronique Cauchefer-Choplin und
Karol Mossakowski. Der mehrfach bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnete
Mossakowski spielte für uns ein beeindruckendes Orgelkonzert.
Am Abend erwartete uns Christophe Mantoux in der auf dem linken Seine-Ufer gelegenen
Kirche Saint-Séverin. Sie ist die älteste Kirche der Stadt und besitzt heute zwei Orgeln: Eine
große Orgel des elsässischen Orgelbauers Kern aus dem Jahr 1963 und eine kleine Hartmann-
Orgel aus dem Jahr 1966. Christophe Mantoux, der von 1986 bis 1992 gemeinsam mit Patrick
Delabre Titularorganist an der Kathedrale von Chartres war, besetzt seit 1995 die Position in
Saint-Séverin. Während eines Orgelkonzerts ließen wir den Raum der gotischen Basilika mit
ihren sehenswerten Glasmalereien im Fenster des Chors auf uns wirken.
Am Vormittag des 25. April fanden weitere Kurse für diejenigen, die sich zu einer aktiven
Teilnahme angemeldet hatten, statt. Die eine Hälfte unserer Gruppe traf in Saint-Gervais auf
Aude Heurtematte, die Hauptorganistin der gotischen Kirche. Saint-Gervais besitzt eine im 17.
Jahrhundert von dem Orgelbauer Thierry erbaute Hauptorgel. Von 1653 bis 1827 bekleideten
Mitglieder der Musikerfamilie Couperin das Organistenamt der Kirche. Die andere Hälfte der
Gruppe hatte die Möglichkeit, in der Kirche Saint-Maurice-de-Bécon auf der 1865 von Aristide
Cavaillé-Coll erbauten Orgel zu spielen und von Christophe Mantoux unterrichtet zu werden.
Am Nachmittag fuhren wir nach Versailles, um in der dortigen Kathedrale Saint-Louis Christian
Ott an seiner Orgel zu hören. Die Orgel wurde 1761 von Louis-Alexandre und François-Henri
Clicquot erbaut. Hundert Jahre später erfolgte ein Umbau durch Aristide Cavaillé-Coll (Einbau
eines Schwellwerks und einer Barker-Maschine). Weitere Umbauten folgten. Bei der
Restaurierung von 1987 bis 1989 durch Théo Haerpfer wurde weitestgehend der Zustand von
Cavaillé-Coll wiederhergestellt. Christian Ott brachte neben Orgelwerken von Bach, Widor und
Lefébure-Wély auch Komponisten zu Gehör, die mit der Kathedrale von Versailles verbunden
sind. Einer von ihnen war Jean-Nicolas Marrigues (1757-1834), der vor der französischen
Revolution Titularorganist an der Kathedrale von Versailles war und später auch am INJA lehrte.
Am Abend trafen wir auf der Seine-Insel Saint-Louis in der Barock-Kirche Saint-Louis-en-l’Île
den Organisten Valentin Rouget. Im Vergleich zu den Orgeln, die wir bisher in Paris gesehen
hatten, handelt es sich hier um einen Neubau. Bernard Aubertin erbaute die Orgel im Jahr 2005
im barocken Stil. Der aus Rouen stammende Valentin Rouget spielte für uns ein Konzert mit
Werken von ausschließlich deutschen Komponisten: Matthias Weckmann, Johann Jakob
Froberger, Dietrich Buxtehude und Johann Sebastian Bach.
Am Vormittag des 26. April erfuhren wir bei einem Vortrag in der Deutschen Evangelischen
Christuskirche Interessantes über das Wirken Albert Schweitzers in Paris. Der aus dem Elsass
stammende Schweitzer hatte u.a. Orgelunterricht bei Charles-Marie Widor an der Orgel von
Saint-Sulpice. Schweitzer spielte insgesamt 487 nachweisbare Benefiz-Konzerte in Europa für
sein Spital in Lambarene. Er setzte sich für den Bau einer neuen Orgel in der Christuskirche ein.
Helga Schauerte, seit 1982 Organistin an der Christuskirche, spielte für uns ein Orgelkonzert.
Am Nachmittag erwartete uns François-Henri Houbart im Kirchenraum von La Madeleine. Der
seit 1979 dort wirkende und sehr beeindruckende 72-jährige Titularorganist sprach auf
unterhaltsame Weise über die Orgel und sein Leben als Organist an der berühmten Kirche
Madeleine, unweit der Place de la Concorde. Die Hauptorgel ist ein Werk von Cavaillé-Coll aus
dem Jahr 1846. Sie wurde 1927 durch Charles Mutin unter Erweiterung des Pedal-Umfangs
umgebaut. Es folgten 1957 die Erweiterung um sechs Register, 1971 die Elektrifizierung und
Erweiterung auf 57 Register, eine Generalüberholung 1988 sowie eine Erweiterung mit
Chamaden in 2002. François-Henri Houbart spielte für uns sehr farbenreiche und klangvolle
Improvisationen. Im Anschluss bestand für die Teilnehmer die Möglichkeit, auf die Orgelempore
zu kommen und selbst zu spielen – ein besonderes Erlebnis, wenn man bedenkt, dass bereits
Camille Saint-Saëns (1858-1877), Théodore Dubois (1877-1896) und Gabriel Fauré (1896-1905)
an dieser Orgel als Titularorganist wirkten.
Am Abend stand der Besuch der Orgel in Saint-Laurent auf dem Programm. Die Hauptorgel
stammt wohl von François Ducastel aus dem Jahr 1682. Es folgten Erweiterungen von François-
Henri Clicquot (1767) und Joseph Merklin (1867). 1945 wurde der Orgelprospekt in die Liste
der Monuments historiques aufgenommen. Béatrice Piertot begrüßte uns und spielte
abwechselnd oder gemeinsam mit ihrem Mann Yannick Merlin auf einer bzw. zwei Orgeln
Werke von Léon Boëllmann, Louis Couperin, G.F. Händel und anderen Komponisten.
Am 27. April, unserem Abreisetag, erwartete uns noch ein besonderer Höhepunkt: Jeden
Sonntag findet um 10h vor dem Gottesdienst ein Orgelkonzert in Saint-Sulpice statt. Wenige
Tage zuvor hatten wir Karol Mossakowsky an der Orgel in Saint-Sulpice erlebt. Heute spielte
seine Kollegin und Co-Titularorganistin Sophie-Véronique Cauchefer-Choplin ein
eindrucksvolles Konzert. Auch im anschließenden Gottesdienst ließ sie die Orgel mächtig und
volltönend erklingen und störte sich nicht daran, dass einige von uns sich direkt neben ihr auf der
Orgelempore aufhielten. Mit diesem großartigen Klangerlebnis ging unsere Orgelreise glanzvoll
zu Ende.
Neben dem Besichtigen von Kirchen und Orgeln in den verschiedensten Pariser Arrondissements
kamen auch die Gemeinschaft und das Erleben der französischen Metropole mit ihrem
besonderen Lebensgefühl nicht zu kurz: Bei gemeinsamen Métro-Fahrten, Restaurant-Besuchen
und Spaziergängen durch die Stadt hatten wir sehr viel Spaß. Besonders erwähnen möchte ich
auch die perfekte Organisation und die sympathische fach- und sprachkundige Reisebegleitung
durch Michael Grüber und Christa Stiegenroth.
Ich bedanke mich herzlich beim Verband Evangelische Kirchenmusik in Württemberg
und bei Michael Grüber von ORGANpromotion für die Stiftung dieses tollen Preises. Die
Orgelreise nach Paris hat bei mir einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen.
Christoph Schramm, Aalen
ORGAN MANAGEMENT IN EUROPE SINCE 1990 • CD- AND DVD-LABEL