Nach rund fünf Jahren Vorbereitung wurde am 21. März 2018 die neue „Utopa Barockorgel“ im Orgelpark in Amsterdam in Betrieb genommen. Die Idee für den Bau einer speziellen Orgel für die Musik von Bach und seinen Zeitgenossen entstand Ende 2012. Im Frühjahr 2013 beschloss man im Orgelpark, sie in die Tat umzusetzen. Dabei war die Überlegung ausschlaggebend, dass das Fachwissen aus dem 17. und 18. Jahrhundert mittlerweile perfekt mit Technologien aus dem 21. Jahrhundert kombiniert werden kann, sodass die Orgel sich auch für moderne Musik eignet. Somit passt das Projekt hervorragend zu der Aufgabe, die sich der Orgelpark gestellt hat, dass nämlich Orgeln durch „eine neue Präsentation in das Musikleben integriert werden sollen“.
Die Inspirationen konnten bei rund fünf Orgelreisen und mehreren Kolloquien und Symposien im Rahmen des „Orgelpark Research Programme“ gesammelt werden. Es war den Mitarbeitenden des Orgelparks sehr wichtig, bei der Entwicklung Experten aus der ganzen Welt mit einzubeziehen: In den letzten Jahrzehnten konnten in anderen Ländern hervorragende Ergebnisse im Orgelbaubereich erzielt werden, basierend auf historischen Elementen, aber auch durch die Entwicklung neuer Orgeltechnologien und Musiziermethoden.
Bei der praktischen Umsetzung der Pläne arbeitete der Orgelpark anschließend mit vier Betrieben zusammen. Elbertse Orgelmakers B.V. (Soest, Niederlande) entwickelte und realisierte die gesamte Orgeltechnologie der Orgeltasten und -pfeifen und baute die vier großen Orgelbalgen sowie das Orgelgehäuse. Hermann Eule Orgelbau GmbH (Bautzen, Deutschland) produzierte den Großteil der 2.426 Orgelpfeifen, wovon die längste rund fünf Meter misst und die kürzeste knapp einen Zentimeter. Munetaka Yokota (Tokio, Japan) entwarf die Klangfarben für die Orgelpfeifen. Die Firma Sinua GmbH (Düsseldorf, Deutschland), spezialisiert auf Orgeltechnologie des 21. Jahrhunderts, wurde mit der Entwicklung eines digitalen „Zugangs“ zum Instrument beauftragt. Selbstverständlich gab es noch weitere Beteiligte: Die Malerarbeiten auf dem Orgelgehäuse wurden von Gerard de Jongh (Waardenburg) ausgeführt und die Schnitzereien von Gert van den Dikkenberg (Veenendaal).
Dank dieser Partner ist dem Orgelpark die Entwicklung der Neuen Barockorgel gelungen, die sowohl authentisch barock als auch durch und durch neu ist. Authentisch Barock ist die Orgel insofern, dass historische Informationen, die in der Welt der alten Musik und Instrumente so wichtig sind, bis in die kleinsten Details nachgeahmt wurden hinsichtlich der Festlegung der Wege, die der „Wind“ (so wird im Orgeljargon die Luft genannt) von den Bälgen zu den Pfeifen nimmt. Genau wie bei einer Blockflöte oder einer Klarinette wird auch bei einer Orgel die Klangqualität von der Art und Weise des Anblasens bestimmt. Im Zentrum des komplexen Systems zwischen Balg und Pfeifen konnte trotzdem noch Platz gefunden werden für kleine, speziell für die neue Orgel von Sinua entwickelte Elektromagneten: eine pro Orgelpfeife. Dank dieses relativ kleinen Eingriffs entstand die Möglichkeit, zwei „Spielbereiche“ umzusetzen: ein traditionelles Manual im Orgelgehäuse selbst, im Stil des 18. Jahrhunderts, und unten im Saal ein frei stehender digitaler Spieltisch mit einer eigenen Klaviatur, um die neuen Möglichkeiten des Instruments zu erforschen und nutzen.
Die Musiker haben somit die Wahl. Sie können die Utopa Barockorgel entweder auf ihrem eigenen Manual bedienen und haben so das Gefühl, dass sie auf einer authentischen Barockorgel des 18. Jahrhunderts spielen – dabei können sogar die Windmaschinen ausgeschaltet und durch sogenannte Balgtreter ersetzt werden, wie es damals üblich war. Oder sie nutzen den zweiten Spieltisch unten im Saal. Beispielswiese um neue Klänge zu kreieren oder Attack (Anstieg) und Release (Freigabe) der Töne beim Spielen zu manipulieren bzw. die Windzufuhr zu ändern – es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Wenn man dabei bedenkt, dass zur Bedienung nicht mehr per se Spielfertigkeit benötigt wird (die Orgel kann bei Bedarf auch über Touchscreens, Laptops und verschiedene andere Benutzeroberflächen betätigt werden) und dass die Orgel alle technischen Voraussetzungen bietet, um mit Mikrofonen und Lautsprechern elektronisch generiertes Material in den Orgelklang zu integrieren, wird klar, dass der Orgelpark sich mit diesem neuen Instrument ein unglaublich vielseitiges musikalisches Terrain erschließt.
Dabei ist das Klangkonzept der Utopa Barockorgel durch und durch barock: der Orgelpark hat sich bei den Forschungsreisen für das Konzept des Orgelbauers Zacharias Hildebrandt entschieden, einem Zeitgenossen und Landsmanns von Johann Sebastian Bach, das er in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte. Die neue Orgel folgt übrigens auch auf fast allen anderen Gebieten dem Vorbild Hildebrandts: Farben und Ornamente inspirieren sich an seiner ersten Orgel, die in Langhennersdorf (1721) gebaut wurde. Die Proportionen des Orgelgehäuses entsprechen jenen der Orgel in Sangerhausen (1728). Die Untergliederung und die Registeraufteilung sind angelehnt an die Orgel in Hettstedt (1749). In Naumburg (1746) konnte das Team des Orgelparks sich für den Klang begeistern – eine Orgel, die zur damaligen Zeit von keinem anderen als Bach selbst den Segen erhalten hat.
Selbstverständlich ist es den Mitarbeitenden des Orgelparks bewusst, dass die von historischen Orgeln eröffneten Klangwelten, immer auch die Spuren späterer Eingriffe tragen. Deshalb besteht auch nicht der Anspruch, dass es sich bei diesem Instrument um die ideale Bach-Orgel handelt und auch nicht um eine Version, die von Hildebrandt selbst in einem Raum wie dem Orgelpark realisiert worden wäre. Letztendlich basiert die Entstehung auf einem relativ nüchternen Weg: der durch die „Poesie, Brillanz und Gravität“ der Orgel in Naumburg inspirierte Enthusiasmus (diese Begriffe stammen von Hildebrandts Konkurrenten/Kollegen Gottfried Silbermann) hat den Orgelpark zum Bau einer Orgel inspiriert, die sowohl der Welt der alten Musik und des Musizierens unter Berücksichtigung historischer Fakten als auch der Welt der modernen heutigen Musik gleichermaßen Respekt zollt.
Der Orgelpark hätte in diesem Fall auch selbst ein neues Klangkonzept entwickeln können, man hat sich jedoch auf die Lehren aus dem 20. Jahrhundert besonnen, wo klar wurde, dass Zukunftsvisionen sich bei Orgeln sehr häufig bereits nach wenigen Jahren als veraltet erweisen. Hingegen bewährt sich die Berücksichtigung historischer Klangkonzepte als nachhaltige Inspirationsquelle.
Das Projekt wurde von einem zentralen Team des Orgelparks geleitet, mit Loek Dijkman als Vorsitzendem (Dijkman ist Präsident der Stiftung „Stichting Utopa“, dem Initiator des Orgelparks), Sylvia de Munck (Vizepräsidentin der Stiftung „Stichting Utopa“), Johan Luijmes (künstlerische Leitung Orgelpark), Hans Fidom (Researcher Orgelpark, Professor für Orgelkunde an der Freien Universität Amsterdam), Peter Peters (Forscher Universität Maastricht) und Hans Elbertse (Orgelbauer). Für das Team ist die Inbetriebnahme der Orgel am 21. März 2018 jedoch noch nicht der Schlusspunkt, sondern erst der Anfang: Der Anfang einer Entdeckungsreise, bei der sowohl bei barocker als auch moderner Musik das Instrument Orgel von neuen Seiten präsentiert wird – um sie auf diese Weise auf verschiedenen Ebenen in sehr gegensätzliche Bereiche des Musiklebens zu integrieren.
Hans Fidom / Oktober 2017
ORGELPARK AMSTERDAM / UTOPA BAROQUE ORGAN (2018)
Concept
Orgelpark
Zacharias Hildebrandt references
Specification: Hettstedt, St.-Jacobikirche, 1749 and Dresden, Dreikönigskirche, 1757
Façade details: Hettstedt, St.-Jacobikirche, 1749
Façade proportions: Sangerhausen, St.-Jacobikirche, 1728
Colours: Langhennersdorf, 1721
Voicing: Naumburg, 1746
Organ builders
Case, action, windchests, bellows: Elbertse Orgelmakers, Soest (Netherlands)
Pipes: Hermann Eule GmbH, Bautzen (Germany)
Voicing: Munetaka Yokota, Tokio (Japan)
Hard- and software: Sinua GmbH, Düsseldorf (Germany)
Specification
Hauptwerk (manual I)
Principal 8’
Burdun 16’
Rohrflött 8’
Quintadehn 8’
Octav 4’
Gemshorn 4’
Weit Pfeiffe 2’
Sexquint altra II
Mixtur V
Cymbel III
Cornett IV
Fagott 16’
Trompet 8’
Tremulant
Oberwerk (manual II)
Principal 4’
Gedackt 8’
Violdigamba 8’
Unda maris 8’
Rohrflött 4’
Nasat 3’
Octav 2’
Waldflött 2’
Tertia 1 3/5’
Quinta 1 1/2’
Sifflött 1’
Scharf IV
Vox humana 8’
Schwebung
Pedal
Principal 16’
Subbass 16’
Quint bass 12’
Octav 8’
Posaune 16’
Posaune 8’
Clarin 4’
Couplers
Manual coupler (shift coupler)
Pedal coupler
Nachtigall
Cymbelstern
Compass manuals: C-d3 (mechanical action) / C-a3 (digital action)
Compass pedal: C-d1 (mechanical action) / C-g1 (digital action)
Pitch: 415,3 Hz (transposable on the digital action)
Temperament developed by Ibo Ortgies: four 1/5-comma fifths, two 1/10-komma fifths
Wind pressure: 63 mm
Key action: mechanical / digital (two consoles)
Stop action: electrical (on both consoles, both equipped with a Setzer system)